Vom 16. bis 21. August treffen sich Aktivist_innen aus ganz Europa in Krems (Österreich), um zu überlegen, wie Ernährungssouveränität in Europa aussehen und umgesetzt werden kann.
Teilnehmende aus Deutschland werden noch gesucht!
Hungerkatastrophen, massive Abholzungen verbunden mit Landvertreibungen, Dioxin-Skandal. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Krisenmeldungen aus dem Nahrungsmittelbereich uns aufschrecken. Nachdem immer mehr Menschen dämmert, dass Politik und Wirtschaft eher Teil des Problems als Teil der Lösung dieser Krisen sind, sehen sie den alleinigen Ausweg darin, die Entwicklung des Nahrungsmittelsystems wieder selbst in die Hand zu nehmen. Unter dem Banner der Ernährungssouveränität vereinen weltweit Menschen aus unterschiedlichen Bereichen – Kleinbäuerinnen und –Bauern, Fischer_innen, aber auch kritische Konsument_innen – ihre Forderungen nach einer radikalen Veränderung und Demokratisierung unseres Nahrungsmittelsystems. 2007 fand in Mali das erste weltweite Errnährungssouveränitätsforum statt.
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Von der Dauerkrise der Ernährung zur Ernährungssouveräntität
Seit einigen Jahren steht das Thema Landwirtschaft wieder hoch auf der politischen Agenda. Grund dafür ist eine tiefe Krise des globalisierten Nahrungsmittelsystems, die viele Gesichter hat: es ist eine ökologische Krise, bei der die industrielle Landwirtschaft ihre wichtigste Grundlage, den Boden, zunehmend zerstört, die Klimaveränderung vorantreibt und auf die endliche Ressource Erdöl zentral angewiesen ist; es ist eine Verteilungskrise, in der zwar theoretisch mehr als genug Essen für alle produziert wird, eine Milliarde Menschen aufgrund fehlender Kaufkraft jedoch aus dem Lebensmittelsystem ausgeschlossen wird; und es ist eine soziale Krise, in der Kleinbauern und -bäuerinnen, die immer noch drei Viertel der Weltbevölkerung ernähren, zunehmend aus der Lebensmittelproduktion gedrängt werden – mit verheerenden Folgen für den ländlichen Raum und die Städte. Diese Krisen sind das Resultat einer jahrzehntelangen desaströsen Politik, die dem modernisierungstheoretischen Paradigma folgend, kleinbäuerliche Strukturen als Entwicklungshemmnis und die Lösung der Ernährungsfrage in der exportorientierten industriellen Landwirtschaft mit massivem Einsatz von chemischen Inputs, Kapital und Technik sah.
Ernährungssouveränität und Demokratie
Die derzeitige krisenhafte Entwicklung des Lebensmittelsektors bestimmen vor allem einflussreiche politische und wirtschaftliche Akteure, und nicht die KonsumentInnen oder gar die ProduzentInnen selbst. Noch. Denn in den letzten Jahren ist der Widerstand gegen das herrschende Agrarregime stark angewachsen. Soziale Bewegungen wie Via Campesina kämpfen weltweit für eine radikale Veränderung der Art und Weise, wie Produktion, Vertrieb und Konsum von Nahrung organisiert wird. Die Grundidee dieser Kämpfe verdichtet sich im Konzept der Ernährungssouveränität und ist so einfach wie komplex: Ernährungssouveränität ist das Recht, Rechte über Ernährung zu haben. Sie beschreibt das Prinzip, dass die Menschen die Gestaltung ihrer Ernährung – von der Aussaat bis zum Verzehr – selbst in die Hand nehmen, anstatt sie an einige wenige Akteurinnen und Akteure abzugeben:
„Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne. Sie verteidigt das Wohlergehen kommender Generationen und bezieht sie ein in unser vorsorgendes Denken. Sie ist eine Strategie des Widerstandes und der Zerschlagung derzeitiger Handels- und Produktionssysteme, die in den Händen multinationaler Konzerne liegen. Die Produzierenden sollen in ihren Dörfern und Ländern ihre Formen der Ernährung, Landwirtschaft, Vieh- und Fischzucht selbst bestimmen können. Ernährungssouveränität stellt lokale und nationale Wirtschaft und Märkte in den Mittelpunkt. Sie fördert bäuerliche Landwirtschaft, Familienbetriebe sowie den traditionellen Fischfang und die Weidewirtschaft. Erzeugung, Verteilung und Verbrauch der Lebensmittel müssen auf sozialer, wirtschaftlicher und umweltbezogener Nachhaltigkeit beruhen. Ernährungssouveränität fördert transparenten Handel, der allen Völkern ein gerechtes Einkommen sichert und den KonsumentInnen das Recht verschafft, ihre Nahrungsmittel zu kontrollieren. Sie garantiert, dass die Nutzungsrechte auf Land, auf Wälder, Wasser, Saatgut, Vieh und Biodiversität in den Händen jener liegen, die das Essen erzeugen. Ernährungssouveränität bildet und stützt neue soziale Beziehungen ohne Unterdrückung und Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, Völkern, ethnischen Gruppen, sozialen Klassen und Generationen.“ (Nyeleni-Deklaration 2007).
Ernährungssouveränität setzt eine radikale Demokratisierung des Lebensmittelsystems voraus. Die Frage, wer wie für wen welche Nahrungsmittel produziert und wie diese verteilt und konsumiert werden, steht dabei im Zentrum. Der Schlüssel für eine „Welt ohne Hunger“ liegt in der Veränderung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse und im Kampf gegen die tief verankerte Ungleichheit in und zwischen den Ländern weltweit.
Was, um alles in Welt, bedeutet nun aber Ernährungssouveränität konkret? Diese Frage zu beantworten, ist gar nicht so leicht. Eines ist Ernährungssouveränität sicherlich nicht: ein Patentrezept zur Lösung der Nahrungsmittelkrise. Will es aber auch gar nicht. Denn dann würde es sich nicht mehr viel von den technokratischen Lösungsvorschlägen unterscheiden, gegen die es gerade ankämpft. Ernährungssouveränität hat viele Gesichter und fungiert auf unterschiedlichsten Ebenen: Sie findet sich in Food-Coops und Community Supported Agriculture-Projekten ebenso wieder wie in Kampagnen gegen die Ausbeutung von Lidl-MitarbeiterInnen, in den Kämpfen gegen die Privatisierung von Saatgut, gegen Gentechnik und Agrartreibstoffe, der Wiederaneignung öffentlicher Räume in Form von Urban Gardening und Kämpfen für eine andere Agrar- und Handelspolitik.
Der Nyeleni-Prozess: Wir machen unseren Weg, indem wir ihn gehen
Für den Aufbau einer globalen Bewegung für Ernährungssouveränität ist der Nyeleni-Prozess von großer Bedeutung. 2007 trafen sich in Mali im Rahmen des ersten Nyeleni-Forums für Ernährungssouveränität 500 Bäuerinnen und Bauern, FischerInnen, Indigene, Landlose, LandarbeiterInnen und MigrantInnen, HirtInnen, sowie städtische soziale Bewegungen und Umweltbewegungen aus aller Welt, um darüber zu diskutieren, wie eine andere, demokratische und sozial gerechte Organisation von Lebensmittelproduktion und –Konsum ausschauen könnten, und was zu dieser Umsetzung notwendig wäre. Daraus ist die Nyeleni-Deklaration entstanden.
Vom 16. bis 21. August 2011 wird nun das zweite – diesmal europäische – Nyeleni-Forum in Krems (NÖ) stattfinden, an die 800 Menschen werden daran teilnehmen. Der Raum, der sich hier öffnet, wird basisdemokratisch organisiert sein, soll die vielen Perspektiven und Praxen, die es in und um Errnährungssouveränität gibt, in einen fruchtbaren Dialog bringen und so zur Stärkung der Bewegung beitragen. Fünf thematische Achsen werden die Diskussion anleiten. Sie reichen von Fragen der Produktion, der Rolle der Märkte, Arbeitsbedingungen im Nahrungsmittelsektor, dem Zugang zu Land und anderen Ressourcen bis hin zu Frage, welche öffentlichen Politiken es für ein anderes, demokratisches Ernährungssystem braucht. Während der Zulauf zum Nyleni-Forum in vielen anderen europäischen Ländern groß ist, hält sich die Zahl der Zusagen aus Deutschland allerdings noch in Grenzen.
Wer Interesse an einer Teilnahme hat, sollte Henrik (maass(at)abl-ev.de) kontaktieren. Er koordiniert die Teilnehmer_innen aus Deutschland.