In einem offenen Brief versuchen Saatgut-Aktivist*innen den deutschen EU-Kommissar Günther Öttinger zu überzeugen gegen die neue EU-Saatgutgesetzgebung am 6. Mai zu stimmen. Hier der offene Brief…
Sehr geehrter Herr Oettinger!
Derzeit bereitet die Generaldirektion SANCO der EU-Kommission einen Vorschlag für eine einheitliche EU-Saatgutverordnung vor. Am 6. Mai wird diese auf der Tagesordnung der Sitzung der Kommissare stehen.
Wir halten es für völlig unnötig und unangemessen, diesen Bereich durch eine einheitliche Verordnung EU-weit regeln zu wollen. Unseres Erachtens ist ein Vorab-Zulassungsverfahren von Produkten für den Handel im Saatgutbereich ebenso wenig nötig wie bei Lebensmitteln oder bei Büchern.
Stellt schon die gegenwärtige EU-Saatgutgesetzgebung ein Hindernis für die Nutzung und Ausweitung landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Biodiversität dar, so sind noch weitergehende Restriktionen vom Vorschlag der DG SANCO zu erwarten. Diesem Vorschlag haben die damit auch befassten DG ENVI und DG AGRI dementsprechend widersprochen, weswegen eine Entscheidung in der Runde der Kommissare überhaupt nötig wird.
Auch einige kosmetische Änderungen am Entwurf in letzter Minute können den falschen Grundansatz der Saatgutverordnung nicht kurieren. Das EU-Saatgutrecht bevorzugt jetzt schon – und droht es in Zukunft noch mehr zu tun – die hoch uniformen DUS-Sorten der Saatgutindustrie. Doch das Problem der Landwirtschaft in der EU besteht ja nicht in mangelnder
Produktivität, sondern in einer immer schmaleren genetischen Basis von Ackerbau und Gartenbau.
Auch den Welthunger kann man mit erhöhter Produktivität nicht bekämpfen:
viele der Hungernden gehören zur armen Landbevölkerung und ihrer Armut wäre mit gesichertem Zugang zu Land und Wasser sowie zu Saatgut von lokal angepassten, reproduktionsfähigen Sorten zu begegnen, nicht mit Überschüssen in der EU, die per Export sogar Landwirtschaftsstrukturen in Afrika und anderswo zu zerstören droht. Ein Leben auf dem Land muss in allen Ländern dieser Erde ein Auskommen bieten, ansonsten wird der Zuzug
vom Land in die Stadt, von den Peripherien in die Zentren anhalten.
Der Vorschlag für eine neue Saatgutgesetzgebung entspricht sehr weitgehend den Wünschen der großen Saatgut-Konzerne, sie fördert deren High-Input Sorten und behindert die Low-Input-Sorten bäuerlicher und ökologischer Landwirtschaft und schränkt diese ein.
Auch Ihr Ressort, Herr Oettinger, ist betroffen, denn High-Input bedeutet auch einen hohen Bedarf an Energie – der jedoch in Zukunft eher zurückgefahren als noch weiter ausgedehnt werden sollte. Eine zentralistische einheitliche Regelung vernachlässigt die unterschiedlichen
regionalen Bedingungen und verhindert die Erhaltung der entstandenen lokalen Pflanzenvielfalt, die häufig in den regionalen Spezialitäten und Essgewohnheiten ihren Ausdruck findet.
So möchten wir Sie dringend bitten, am 6. Mai den Vorschlag der DG SANCO zurückzuweisen und sich für eine grundlegende Überarbeitung einzusetzen.
Auch wenn Sie, Herr Oettinger, in der Vergangenheit immer wieder eine große Nähe zur Industrie gezeigt haben, setzen wir dennoch darauf, dass Sie nicht einfach die Interessen der Saatgut- und Agrarchemie-Industrie vertreten, sondern im Interesse zukünftiger Generationen und einer Sortenvielfalt in Landwirtschaft bzw. Gartenbaus handeln.
Weiterhin setzen Sie sich bitte dafür ein, dass die Regulierung der Sortenzulassung und diue Registrierungspflicht für Sorten weitgehend zurückgeschnitten wird – und jedenfalls der nach den vorliegenden Entwürfen zu erwartende Vorschlag der DG SANCO keine Mehrheit im Kreis der Kommissare findet!
Im Anhang finden Sie einen Brief an die EU-Kommissare und also auch an Sie, den mit uns binnen weniger als einer Woche mittlerweile 5000 Bürgerinnen und Bürger der EU unterzeichnet haben.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Riekeberg
für die „Kampagne für Saatgut-Souveränität“